Thermografie: Gefahren sehen, bevor sie entstehen
In der Elektrotechnik ist Thermografie längst mehr als ein Zusatztool, sondern ein wichtiges Diagnoseinstrument. Im Gespräch verrät Marius Votta, Geschäftsführer und Inhaber der Voltech GmbH, wie Wärmebildkameras Defekte frühzeitig aufspüren, welche Technik dafür nötig ist und welche Fehler man bei der Messung unbedingt vermeiden sollte.
Thermografische Messungen mit Wärmebildkameras haben sich in vielen technischen Bereichen etabliert. Welche konkreten Einsatzgebiete sehen Sie im elektrotechnischen Umfeld?
Marius Votta: Thermografie ist heute ein unverzichtbares Werkzeug in der Elektrotechnik, sowohl für Elektriker im Handwerk als auch für Betriebstechniker in der Industrie. Die Einsatzgebiete reichen von der klassischen Überprüfung elektrischer Verbindungen und Kontakte bis hin zur vorausschauenden Wartung komplexer Mittel- und Hochspannungsanlagen.
Ein typisches Beispiel: Lose Verbindungen oder korrodierte Kontakte erzeugen durch erhöhten Übergangswiderstand eine auffällige Wärmeentwicklung – ein potenzielles Risiko für Kabelbrände. Ähnliches gilt bei überlasteten Leitungen oder asymmetrischer Phasenverteilung. Hier erkennt die Thermografie zuverlässig Hotspots, bevor sie zu Ausfällen führen.
Besonders hilfreich ist sie auch bei der Zustandsüberwachung von Motoren, Transformatoren oder Relais – dort, wo abweichende Temperaturmuster auf Lagerdefekte oder Kühlprobleme hinweisen. Und nicht zu vergessen: Photovoltaikanlagen. Zellschäden und Mikrorisse lassen sich per Infrarotbild schnell identifizieren, was für Versicherungen und Betreiber einen grossen Mehrwert bietet.
Aber ein Wärmebild alleine reicht ja noch nicht – wie beurteilt man, ob ein sichtbarer Hotspot tatsächlich ein Problem darstellt?
Marius Votta: Ganz richtig, das eigentliche Bild ist nur der erste Schritt. Die Interpretation erfordert fundiertes elektrotechnisches Know-how. Man muss unterscheiden können: Ist das nur normale Betriebswärme oder bereits ein Hinweis auf einen Defekt? Dazu braucht es Erfahrung mit typischen Temperaturbereichen von Betriebsmitteln, Verständnis thermischer Prozesse und natürlich Kenntnisse über externe Einflussfaktoren wie Luftzug oder Reflexionen.
Viele Hersteller bieten Schulungen an, zudem gibt es anerkannte Zertifizierungen wie die ISO 9712. Dort werden Thermografen nach Level 1 bis 3 qualifiziert, je nachdem, ob sie nur messen, selbst interpretieren oder sogar Prüfverfahren entwickeln sollen. In grösseren Betrieben arbeiten Fachkräfte häufig in interdisziplinären Teams, Elektrotechnik, Mechanik und Thermografie greifen da eng ineinander.
Worauf sollte man achten, wenn man ein geeignetes Kamerasystem für elektrotechnische Anwendungen auswählt?
Marius Votta: Das kommt stark auf den Anwendungsbereich an. Für einfache Wartungsarbeiten im Handwerk reicht eine semi-professionelle Kamera oft aus. In der Industrie sind höhere Auflösungen mit 640 x 480 Pixel Standard. Wichtig ist auch die thermische Empfindlichkeit: Für Elektrotechnik empfehlen wir Geräte mit einer NETD von unter 60 mK, um auch geringe Temperaturunterschiede erkennen zu können.
Weitere Punkte sind die einstellbare Emissionsgradkorrektur, der Temperaturmessbereich sowie ein manuell fokussierbares Objektiv. Für kritische Infrastrukturen oder Hochspannungsanlagen kommen High-End-Geräte mit radiometrischer Videoaufnahme und Zoomoptiken zum Einsatz, oft auch mit Schwenkdisplay und Kalibrierzertifikat.
Und wie sieht es mit den kompakten Wärmebildkameras für Smartphones aus – sind die mehr Spielerei oder ernstzunehmende Werkzeuge?
Marius Votta: Beides trifft zu, je nach Einsatz. Diese kompakten Kameras sind erstaunlich leistungsfähig, gerade für erste Sichtkontrollen, etwa bei heissen Steckdosen oder Sicherungen in Wohnanlagen. Auch für Schulungszwecke oder zur Fehlersuche in kleinen Geräten eignen sie sich gut.
Aber für professionelle Anwendungen in der Industrie, bei Mittelspannung oder in sicherheitskritischen Umgebungen sind sie klar ungeeignet. Es fehlt an Auflösung, Kalibrierung, Dokumentationsfähigkeit und oft auch an der nötigen Robustheit. Man kann sagen: als Ergänzung sinnvoll, als Ersatz keine Option.
Lassen Sie uns in die Praxis gehen: Wie gehen Sie beispielsweise bei der thermografischen Untersuchung eines Schaltschranks systematisch vor?
Marius Votta: Eine gute Messung beginnt immer mit der Planung. Der Schaltschrank sollte unter realistischer Betriebsbelastung laufen, denn unter Teillast bleiben viele thermische Auffälligkeiten unsichtbar. Die Kamera wird auf den passenden Emissionsgrad eingestellt, und die Messung erfolgt systematisch: von oben nach unten, von links nach rechts, stets im gleichen Abstand und Winkel, um Vergleichbarkeit sicherzustellen. Wichtig ist auch, Wärmebild und Echtbild zu kombinieren, damit der Hotspot später eindeutig zugeordnet werden kann. Temperaturdifferenzen von mehr als 20 Kelvin gegenüber gleich belasteten Komponenten sind oft verdächtig.
Aber vorsichtig, es lauern diverse Stolpersteine: etwa Reflexionen an blankem Metall, falsch eingestellter Emissionsgrad oder zu grosser Messabstand. Auch die Interpretation muss stimmen, nicht jede heisse Komponente ist ein Problem, manche Geräte dürfen 100 °C oder mehr erreichen. Entscheidend ist der Vergleich mit Referenzwerten oder mit baugleichen Komponenten im selben Zustand.
Wie beeinflussen Umweltfaktoren wie Luftfeuchtigkeit oder Messabstand die Ergebnisse?
Marius Votta: Sehr stark sogar. Thermografie misst Infrarotstrahlung, und die wird von Wasserdampf in der Luft absorbiert. Bei hoher Luftfeuchtigkeit oder grossem Abstand wirken Objekte daher kühler, als sie wirklich sind. Auch Luftzug, Sonneneinstrahlung oder reflektierende Oberflächen können das Messergebnis verfälschen.
Der Messabstand sollte immer so klein wie möglich sein – unter Beachtung der Sicherheitsvorgaben natürlich. Bei Bedarf helfen Teleobjektive. Und bei stark reflektierenden Materialien wie blankem Kupfer hilft schwarzes Isolierband als Messhilfe, da es einen bekannten, hohen Emissionsgrad hat.
Ein zentrales Ziel ist die frühzeitige Erkennung von Verschleiss – wie leistet Thermografie hier ihren Beitrag?
Marius Votta: Sie ist gewissermassen ein Frühwarnsystem. Viele elektrische Defekte kündigen sich durch Wärme an, lange bevor es kracht oder etwas ausfällt. Typische Beispiele: lose Klemmstellen, oxidierte Kontakte oder ungleich belastete Phasen. Im Wärmebild zeigt sich das oft durch punktuelle Hotspots oder Temperaturdifferenzen zwischen baugleichen Komponenten. Thermografie erlaubt hier eine zustandsorientierte Instandhaltung: Man muss nicht nach festem Intervall tauschen oder kontrollieren, sondern dann, wenn sich ein Problem abzeichnet. Das spart Zeit, reduziert Ausfallrisiken und erhöht die Sicherheit. Ein überhitzter Kabelschuh ist schliesslich nicht nur ein Verschleissmerkmal, sondern potenziell brandgefährlich.
Sie haben diverse Stolpersteine kurz erwähnt. Können Sie die häufigsten Fehlerquellen bei der thermografischen Inspektion nochmals kompakt zusammenfassen?
Marius Votta: Ganz oben steht der falsche Emissionsgrad. Wer den nicht korrekt einstellt oder reflektierende Oberflächen nicht beachtet, misst schnell 20 Grad zu wenig oder interpretiert ein Spiegelbild als Hotspot. Ein weiterer häufiger Fehler: Messen ohne Last. Ohne Strom kein Wärmeproblem – da bleibt jeder Defekt unsichtbar. Auch zu geringe Auflösung, zu grosser Abstand, fehlende Dokumentation oder eine Messung an verdeckten Bauteilen können die Aussagekraft ruinieren. Kurz gesagt: Thermografie ist einfach in der Anwendung, aber anspruchsvoll in der Bewertung. Sie verlangt Erfahrung, Präzision und ein systematisches Vorgehen.
Zum Schluss noch ein Blick auf die Zertifizierung: Welche Anforderungen stellt die ISO 9712 an Thermografie-Prüfer?
Marius Votta: Die ISO 9712 unterscheidet drei Level. Level 1 ist die Einstiegsstufe: Der Prüfer darf Messungen durchführen, aber nicht interpretieren oder bewerten. Level 2 befähigt zur eigenständigen Analyse und Berichterstellung. Level 3 ist für Spezialisten, die Prüfverfahren entwickeln, Personal ausbilden und die Qualitätssicherung verantworten.
Für Level 1 sind mindestens 32 Schulungsstunden und drei Monate Praxiserfahrung nötig, Level 2 setzt das Dreifache voraus. Wer also professionell mit Thermografie arbeiten will – gerade im elektrotechnischen Bereich – sollte mindestens Level 2 anstreben. Das sorgt nicht nur für sichere Ergebnisse, sondern auch für rechtssichere Dokumentation.