Wie elektrotechnische Normen entstehen
Normen sind allgegenwärtig. Ob bei der Felgengrösse für Autoreifen, der Spurweite von Bahnen oder bei Querschnitten von Leitern: Überall spielen Normen eine wichtige Rolle. Sie sorgen für Sicherheit, erleichtern den internationalen Handel und vereinfachen Zulassungsverfahren für neue Produkte.
Die Frage ist leicht gestellt: «Wie entsteht eigentlich eine elektrotechnische Norm?» Etwas weniger leicht fällt die Antwort darauf, denn die Frage öffnet Tore zu einem ganzen Universum von Normenorganisationen und -werken. Entsprechend komplex und vielschichtig ist der Entstehungsprozess von Normen, der die Zusammenarbeit von Fachleuten aus Industrie, Wissenschaft und Behörden erfordert. In diesem Artikel erläutern wir den Entstehungsprozess von Normen und zeigen auf, welche Rollen nationale und internationale Organisationen dabei spielen.
Was ist eine Norm und warum ist sie wichtig?
Eine Norm ist eine offiziell anerkannte, freiwillige technische Regelung, die den Stand der Technik widerspiegelt. Sie gewährleistet die Sicherheit von Produkten und trägt wesentlich dazu bei, dass Produkte effizient und kompatibel entwickelt und produziert werden können. Dies ist besonders in der Elektrotechnik essenziell, da eine fehlerhafte Installation oder ein nicht normgerechtes Produkt gravierende Sicherheitsrisiken in sich birgt. Normen sind keine rechtlichen Setzungen. Sie haben aber eine hohe rechtliche Bedeutung. Entsprechend gelten Produkte und Installationen, die nach anerkannten Normen gefertigt sind, in der Regel als sicher und sie erfüllen die gesetzlichen Anforderungen.
Die wichtigsten Organisationen in der Normung
Die Normungsarbeit erfolgt auf drei Ebenen:
Internationale Ebene (mit aussereuropäischer Beteiligung):
- IEC (International Electrotechnical Commission): erarbeitet internationale Normen für die Elektrotechnik
- ISO (International Organization for Standardization): setzt branchenübergreifende internationale Standards
- ITU (International Telecommunication Union): entwickelt Normen für den Telekommunikationsbereich
Europäische Ebene:
- CENELEC (European Committee for Electrotechnical Standardization): setzt europäische Normen auf der Basis von IEC-Standards um oder entwickelt eigene
- CEN (European Committee for Standardization): verantwortlich für technische Normen ausserhalb der Elektrotechnik
- ETSI (European Telecommunications Standards Institute): zuständig für Telekommunikationsnormen
Nationale Ebene:
- CES (Comité Electrotechnique Suisse): koordiniert die elektrotechnische Normung in der Schweiz und vertritt das Land in IEC und CENELEC
- SNV (Schweizerische Normen-Vereinigung): zuständig für branchenübergreifende Normen
- Electrosuisse: unterstützt die Entwicklung von Normen und koordiniert die Arbeit der Experten
Der Entstehungsprozess einer elektrotechnischen Norm
Die Erstellung einer Norm ist ein mehrstufiger Prozess, der mehrere Jahre dauern kann. Experten aus verschiedenen Bereichen arbeiten gemeinsam daran, eine technische Regelung zu entwickeln, die den aktuellen Stand der Technik widerspiegelt.
1. Vorschlag für eine neue Norm oder Überarbeitung einer bestehenden Norm
Die Schaffung einer neuen Norm kann aus verschiedenen Gründen vorgeschlagen werden. Zum Beispiel erfordern neue Technologien oder Materialien neue Standards oder es müssen Sicherheitsanforderungen aktualisiert werden. Auch Unfälle oder eingetretene Schäden können eine Überarbeitung von Normen in Gang setzen. Zudem müssen bestehende Normen laufend an internationale Vorschriften angepasst werden. Vorschläge für Normen, die in den technischen Gremien des CES oder CENELEC diskutiert werden, können von Unternehmen, Fachverbänden oder Behörden eingebracht werden. Normierung ist ein kontinuierlicher Verbesserungsprozess. Normen werden nach dem Modell «Plan-Do-Check-Act» stetig überprüft und weiterentwickelt.
2. Erarbeitung einer Norm durch ein technisches Komitee
Wenn ein Vorschlag als relevant erachtet wird, bildet sich eine Arbeitsgruppe von Experten aus Industrie, Forschung und Behörden. Dieses Gremium analysiert den aktuellen Stand der Technik und entwickelt einen ersten Entwurf der Norm. Im Bereich der Niederspannungsinstallation ist dies das Technical Committee (TC) 64 der IEC. Sein Schweizer Pendant ist das Technische Komitee (TK) 64.
- Wichtige Fragen, die hierbei geklärt werden:
- Welche technischen Anforderungen müssen definiert werden?
- Wie kann die Sicherheit gewährleistet werden?
- Welche bestehenden Normen müssen berücksichtigt oder angepasst werden?
Die Experten orientieren sich oft an internationalen Standards (z.B. IEC-Normen), um eine hohe internationale Kompatibilität sicherzustellen.
3. Entwurfsphase und öffentliche Konsultation
Sobald ein erster Entwurf der Norm erstellt ist, wird dieser veröffentlicht bzw. innerhalb der Fachwelt zur Diskussion gestellt. Die Möglichkeit zur Einsicht und zur Abgabe von Kommentaren steht in dieser Phase allen möglichen Stakeholdern offen. Kommentare und Verbesserungsvorschläge werden meistens von Unternehmen, Fachleuten und Verbänden eingereicht.
In dieser Phase können noch Änderungen vorgenommen werden, bevor eine Norm definitiv formuliert wird. Typische Rückmeldungen betreffen Präzisierungen oder Klarstellungen, Fragen zur praktischen Umsetzbarkeit der in der Norm beschriebenen Anforderungen oder notwendige Anpassungen an gesetzliche Vorgaben.
Jeder Schritt dauert mehrere Monate, sodass die Erarbeitung einer Norm mindestens zwei, aber auch bis zu fünf Jahre dauern kann. Um eine breite Akzeptanz für eine neue Norm zu erreichen, sind zustimmende Stellungnahmen der nationalen Gremien erforderlich.
4. Abstimmung und Annahme der Norm
Nach der Überarbeitung der Entwurfsfassung erfolgt die Genehmigung des finalisierten Textes durch die Mitglieder der Normungsgremien, und zwar nach dem Konsensprinzip: Eine Norm wird nur dann verabschiedet, wenn eine breite Mehrheit sich dafür ausspricht.
Auf europäischer Ebene müssen sich alle Mitgliedsländer von CENELEC auf den Wortlaut einer Norm einigen. In der Schweiz wird diese als nationale Norm (SN) übernommen. Gegebenenfalls wird eine neu eingeführte Norm bei der Übernahme kommentiert und mit Praxisbeispielen und Hinweisen auf nationale Besonderheiten ergänzt. Anpassungen an regionale und allenfalls sogar lokale Begebenheiten machen vor allem im Gebäudebereich Sinn, denn das Bauen kann durch örtliche Besonderheiten geprägt und insbesondere durch klimatische und kulturelle Gegebenheiten beeinflusst sein.
5. Veröffentlichung und Anwendung der Norm
Nach ihrer Annahme wird eine Norm über die einschlägigen Kanäle publiziert und steht den Unternehmen ab dem Zeitpunkt der Veröffentlichung zur Verfügung. Sie kann als eigenständige technische Regel genutzt oder in gesetzliche Vorschriften integriert werden. IEC-Normen werden mit Nummern von 60000 bis 79999 versehen. Europäische Normen tragen eine 50000er-Nummer. Die Normenreihe für Niederspannungsinstallationen trägt die Nummer 60364. Aus dieser Normenreihe leitete das TK 64 in Zusammenarbeit mit Electrosuisse die Niederspannungs-Installationsnorm (NIN) ab.
Beispiele für bekannte elektrotechnische Normen:
- SN EN 61851-1: Norm für Ladestationen von Elektrofahrzeugen
- SN 411000: Niederspannungs-Installationsnorm (NIN)
6. Regelmässige Überprüfung und Aktualisierung
Technologien entwickeln sich stetig weiter. Deshalb werden Normen regelmässig überprüft und den sich ändernden Umständen angepasst. In der Regel erfolgt alle fünf bis zehn Jahre eine Revision. Auslöser für eine Überarbeitung können (siehe auch Punkt 1) neue technische Erkenntnisse sein, Änderungen in den gesetzlichen Vorgaben oder Verbesserungsvorschläge aus der Praxis. Die regelmässige Überprüfung der Normen stellt sicher, dass diese dem aktuellen Stand der Technik entsprechen. In der Schweiz befassen sich über 900 Experten aus den unterschiedlichsten Bereichen der Elektrobranche (KMU bis Industrieunternehmen) in mehr als 100 technischen Komitees mit aktuellen Fragen zur Normung.

Aufschriften, Prüfzeichen und Nachweise
Verschiedene Prüfzeichen und Nachweise leisten einen wichtigen Beitrag zur Sicherheit elektrischer Produkte und Installationen. Während das CE-Zeichen lediglich eine Herstellererklärung ist, stehen nationale und internationale Prüfzeichen dafür, dass eine unabhängige Zertifizierung vorgenommen wurde. Eine Konformitätserklärung verweist immer auf die jeweils angewendeten Normen. Bei Elektroinstallationen in der Schweiz wird die Konformität mit dem Sicherheitsnachweis (SiNa) ausgewiesen, welcher die Einhaltung der Normen und der NIV belegt.
Fazit
Normen sind wichtige Grundlagen für die Sicherheit von Installationen und Apparaten, für Innovationen und für den internationalen Handel im Zusammenhang mit der Elektrotechnik. Die Prozesse zur Erarbeitung von breit abgestützten Normen sind aufwendig, aber unverzichtbar für die Herstellung zuverlässiger und sicherer Produkte wie auch für eine funktionierende Zusammenarbeit in der Elektrobranche. Wer sich aktiv an den Normungsarbeiten beteiligt, sichert sich gegebenenfalls einen gewissen Informationsvorsprung, kann die Zukunft der Elektrotechnik mitgestalten und profitiert durch seine Mitarbeit langfristig von Wettbewerbsvorteilen.